Band des Schweigens: John A. Fortunes 1. Fall

Klappentext

 

John Achilles Fortune, der gut aussehende Londoner Anwalt, erhält seinen ersten eigenen Fall. Er wird beauftragt, mögliche Nachkommen der betuchten Eleanor Cavendish zu finden. Was zuerst nach reiner Routine aussieht, entwickelt sich bald zu einem mysteriösen Spiel. Denn die alte Lady umgab ein Geheimnis. Wieso unterhielt sie ein leeres Grab auf einem Londoner Friedhof? Und wer sind die beiden Mädchen auf dem Foto, das er in einem Versteck findet?

Die Spur führt ins wildromantische Cornwall, wo er die attraktive Alice Ponsomby Pane trifft.

 

 

 

Ist sie womöglich eine legitime Nachfahrin seiner verstor- benen Klientin? Oder hat sie es nur auf deren Vermögen abgesehen? Und wieso fühlt er auf einmal so ein seltsames Kribbeln in ihrer Gegenwart? Er wird sich doch nicht etwa in eine potenzielle Erbin verliebt haben!

 

John ist hin- und hergerissen zwischen Sympathie und Professionalität. Wird er den Dschungel aus Lügen, Intri- gen und vertuschten Familiengeheimnissen, die bis in den Zweiten Weltkrieg zurückführen, durchdringen können?


Leseprobe

 

Kapitel 1

John Fortune schauderte. Ein eiskalter Regentropfen fand den Weg zwischen Hemdkragen und Jacke und lief langsam an seinem Hals hinunter. Er unterdrückte den Drang, sich wie ein Hund zu schütteln. Nicht, dass sich irgendjemand an diesem Gebaren gestört hätte, denn außer ihm und dem Priester befanden sich bloß noch zwei Menschen auf dem Brompton Friedhof im südwestlichen Teil Londons und die starrten beide zu Boden. Doch die Beisetzung von Eleanor Constance Cavendish verlangte ein gewisses Maß an Haltung, deshalb zog er lediglich eine Schulter hoch.
Der März war in diesem Jahr selbst für Londoner Verhältnisse zu nass. Seit Wochen hatten die Hauptstädter die Sonne nicht mehr gesehen, als würde sie ihnen zürnen.
   John warf einen Blick in den grauen, mit dunklen Wattewolken gespickten Himmel hinauf und konzentrierte sich dann wieder auf die beiden älteren Leute, die mit angemessener Trauermiene dem Begräbnisgottesdienst folgten. Hatten sie die Tote gekannt?
   Im Gegensatz zu seinen Kollegen in der Anwaltsfirma McDermott & Hobbs brauchte er weder ein Diktiergerät noch ein Notizbuch für seine Nachforschungen. Sein Gedächtnis war seit frühester Kindheit dazu in der Lage, alles Gesehene, Gesprochene und Gehörte aufzuzeichnen, als hätte er eine Festplatte mit unbegrenzter Speicherkapazität im Kopf. Seit einem halben Jahr arbeitete er jetzt in der renommierten Kanzlei, die sich auf „einsam Gestorbene“ spezialisiert hatte. Das Londoner Nachlassgericht beauftragte seine Firma, jeweils Namen und Adresse von etwaigen Verwandten dieser Personen ausfindig zu machen, damit ihnen ihr Erbe ausbezahlt werden konnte. Dies war sein erster eigener Fall und sein Ehrgeiz ging dahin, ihn so schnell wie möglich zu lösen. Bei McDermott & Hobbs musste sich jeder Angestellte bewähren. Je effizienter einer seine Fälle löste, desto eher wurde er europaweit, oder, für die ganz cleveren, weltweit eingesetzt. Für ihn als Anfänger hieß das, sich die Sporen zuerst in England und Schottland zu verdienen. Mit viel Glück wäre vielleicht auch noch Irland im Kreis des Möglichen.
   Ein asthmatisches Husten riss ihn aus seinen Gedanken. Der ältere Mann, der ihm schräg gegenüberstand, zog ein Taschentuch aus seiner verbeulten Hosentasche und spuckte hinein.
   Ob dieser Herr tatsächlich mit Eleanor Cavendish verwandt war? Er wusste noch nicht viel über seine verstorbene Klientin, aber dieses pompöse Marmormausoleum auf einem der berühmtesten Londoner Friedhöfe schien so gar nicht zu der traurigen Gestalt ihm gegenüber zu passen. Ebenso konnte er sich nicht vorstellen, dass die ältere Frau mit dem fadenscheinigen Dutt aus graublonden Strähnen und dem fleckigen Regenmantel an seiner Seite ins private Umfeld seiner verstorbenen Klientin gehörte. Doch er hatte in seiner kurzen Laufbahn bei McDermott & Hobbs bereits gelernt, dass es wenig ratsam war, sich nach Äußerlichkeiten zu richten. Oftmals kamen Goldschätze zum Vorschein, wenn man nur ein wenig an der rußigen Oberfläche kratzte. Aber eines war auf alle Fälle sicher: Wer immer Miss Cavendishs Vermögen erbte, hatte für lange Zeit ausgesorgt.
   Der Priester sprach die letzten Worte und schlug das Kreuz. Die beiden älteren Herrschaften traten ans offene Mausoleum, in dessen Inneren sich der Sarg von Miss Cavendish befand. Er ruhte auf einem Messinggestell und würde nach der Begräbnisfeier in eine dafür vorhergesehene Nische eingelassen werden. Das Paar verharrte einen Moment vor der offenen Grabstätte, murmelte ein paar Worte und drehte sich dann um.
   John sah währenddessen dem davoneilenden Geistlichen nach. Offensichtlich lockte diesen der Neunuhrtee. Er beneidete ihn darum. Heute Morgen war er ohne Frühstück aus dem Haus gestürzt, weil er letzte Nacht bis zwei Uhr gelesen und deswegen verschlafen hatte. Demzufolge knurrte sein Magen schon seit einer Weile und für eine Tasse Tee hätte er seinen linken Arm geopfert.
   Er bekreuzigte sich ebenfalls und ging dem älteren Paar hinterher, das soeben durch das schmiedeeiserne Tor den Friedhof verließ. Er räusperte sich und die beiden drehten sich um.
   „Entschuldigen Sie bitte“, begann er, „mein Name ist John Fortune. Ich arbeite bei McDermott & Hobbs und würde gern in Erfahrung bringen, ob Sie mit Miss Cavendish verwandt waren.“ Er strich sich das regenfeuchte Haar aus der Stirn und bedauerte, dass Männerhüte nicht mehr in Mode waren.
   Die beiden älteren Leute sahen sich einen Moment verblüfft an und brachen dann in Gelächter aus.
   John blickte betreten zu Boden. Er war zwar nicht sehr religiös, trotzdem erschien es ihm unsensibel, nach einem Begräbnis in solche Heiterkeit auszubrechen.
   „Gloria“, begann der Mann und zog abermals sein Taschentuch hervor, mit dem er sich die tränenden Augen abwischte.  

  „Hast du gehört? Wir sollen mit der Toten verwandt sein.“ Die Frau gluckste und nestelte dabei an ihrem Dutt herum. Der alte Mann schüttelte lachend den Kopf, klopfte John auf die Schulter, als hätte dieser den Witz des Tages vorgetragen und bot dann der Frau an seiner Seite den Arm. „Mylady, wenn Sie mich bitte begleiten möchten? Ein Tässchen Tee kann jetzt sicher nicht schaden.“
   Die duttbehaftete Frau gluckste abermals, griff geziert nach dem Arm des Mannes und flötete: „Aber Mylord, wie können Sie mich so bedrängen, Sie Schwerenöter!“
   Dann drehten sich die beiden immer noch kichernd um und ließen den verdutzten John einfach stehen.

Als er an der U-Bahn-Station Blackfriars die Tube verließ, hatte er sein Scheitern bei der Befragung des älteren Paares verdaut. Vielleicht waren es Nachbarn oder ehemalige Bedienstete. Ihrer Reaktion zufolge hatten sie auf alle Fälle nicht viel von Miss Cavendish gehalten. Nachbarschaftsstreit? Oder hatten sie das Begräbnis nur besucht, um sicher zu sein, dass die alte Dame auch wirklich tot war? Er schüttelte den Kopf, als er die Queen Victoria Street überquerte. Sein Hang zum Pessimismus trieb Blüten.
   Wenige Minuten später betrat er die Anwaltskanzlei von McDermott & Hobbs in der Pilgrim Street. Im Foyer traf er auf Samantha, die persönliche Assistentin von Harold Hobbs, dem Seniorpartner. Sie warf ihm ein strahlendes Lächeln zu, als sie auf hohen Absätzen an ihm vorbeistöckelte und ihm wurde es flau im Magen. Ihr flachsblondes Haar hatte sie zu einem strengen Pferdeschwanz zusammengebunden. Unter ihrem Arm klemmte eine lederne Aktenmappe und in der anderen Hand hielt sie einen Kartonbecher von Starbucks. Sie sah umwerfend aus und natürlich fiel ihm kein passender Spruch ein, um sie in ein Gespräch zu verwickeln. Er grinste lediglich zurück und schlug sich dann an die Stirn, als sie im Aufzug verschwand.
   „Idiot!“, knirschte er.
   „Hast du etwas gesagt?“
   Albert Summers, sein Arbeitskollege, der gerade durch die Eingangstür trat, schaute ihn fragend an. Offensichtlich war er mit Samantha bei Starbucks gewesen, denn auch er hielt einen weißgrünen Becher in der Hand.
   Albert war ein Yuppie: Gut aussehend, sportlich, erfolgreich, Spross einer adligen Familie. Wäre er nicht so nett gewesen, John hätte ihn gehasst. Aber Summers war weder arrogant noch herablassend. Und es war ja nicht sein Fehler, dass ihm die Frauenherzen einfach so zuflogen und John im Gegenzug fast an seiner Zunge erstickte, wenn er mit einer hübschen Frau einen Satz wechseln sollte.
   „Nur laut gedacht“, erwiderte er, hängte seine durchweichte Jacke an die Garderobe in ihrem Büro und setzte sich an seinen Schreibtisch.
   Albert betrachtete ihn stirnrunzelnd.
   „Ist was, Kumpel?“, fragte er und stellte ihm den dampfenden Becher vor die Nase. „Chai Tea, extra süß, wie du ihn magst.“
   Wie konnte man den Kerl nicht mögen?
   „Danke“, erwiderte John und verbrannte sich an dem heißen Getränk prompt die Zunge. „Ich war heute bei Miss Cavendishs Beerdigung“, begann er und pustete in den Becher.
   „Und?“ Albert richtete seine Krawatte und setzte sich auf die Ecke seines Schreibtischs.
   John zuckte mit den Achseln. „Nichts Verwertbares. Ein Paar Spaßvögel war anwesend, sonst niemand.“
   „Dann bleibt wohl nur die harte Tour: Gewühl in staubigen Papieren.“ Summers stand auf. „Ich habe ein Meeting mit der hübschen Samantha und ihrem Boss.“ Er zwinkerte. „Soll ich sie von dir grüßen?“
   „Hau bloß ab, du Witzbold!“
   Albert salutierte und verließ lachend ihr Büro. John schnalzte ärgerlich mit der Zunge. Ein bisschen mehr Summers und weniger Fortune wäre nicht schlecht, dachte er resigniert, dann widmete er sich den Papieren, die sie vom Nachlassgericht betreffend des Todesfalls Nr. 4589 CV 10, Eleanor Constance Cavendish, erhalten hatten.

 

 

Kapitel 2

Ben schnappte nach der Krabbe, zuckte zurück, als diese wehrhaft die Scheren hob, stemmte dann die Vorderbeine in den Sand und bellte das Schalentier wütend an.
   Alice Ponsomby Pane schüttelte lächelnd den Kopf. „Pass bloß auf, alter Freund. Es wäre nicht das erste Mal, dass du dir eine blutige Schnauze holst.“
  Ben, der Mischling zwischen irgendetwas und einem Golden Retriever, wandte den Kopf und ließ von der Krabbe ab, die sich eilig in Richtung Meer verzog. Stattdessen schnappte er sich ein Stück ausgebleichtes Treibholz und jagte damit den Strand von St Ives entlang.
   Alice lachte, der Hund hatte die Aufmerksamkeitsspanne einer Amöbe. Kein Wunder, dass er als Wachhund nichts taugte. Trotzdem liebte sie ihn. Hunde waren so viel anspruchsloser als Menschen. Sie seufzte. Was zum Henker hatte sich Gordon nur dabei gedacht, ihr vergangene Nacht einen Heiratsantrag zu machen? Er wusste doch, was sie von der Ehe hielt. Etwa so viel wie Ben vom Gehorchen.
   Sie bückte sich, hob einen flachen Kiesel auf und strich mit dem Daumen über die glatt geschliffene Oberfläche. Ihr Vater hatte ihr als Kind beigebracht, in welchem Winkel sie ihn übers Wasser werfen musste, damit er darüberhüpfte. Doch heute war die Brandung zu stark, der Stein würde einfach im Meer versinken, deshalb steckte sie ihn in ihre Jackentasche und schlang die Arme um die Brust.
   Sie blieb stehen und atmete die salzige Meeresluft ein.
   Es war noch früh und der Himmel mit dunklen Regenwolken bedeckt. Die wenigen Touristen, die St Ives im März besuchten, saßen noch in ihren Hotels bei Porridge und Rührei und warteten darauf, dass die Wolkendecke aufriss, um einen Spaziergang am Strand oder dem Küstenpfad entlang zu unternehmen.
   Alice mochte Regentage, wenn der Sand schwer an ihren Schuhen klebte, ihr die Gischt ins Gesicht spritzte und kein Mensch ihren Weg kreuzte, außer den Möwen, die sogar bei Sturmwind ihre Kreise zogen. Schreiend, lärmend, immer auf dem Sprung, etwas Fressbares zu ergattern. Eine Zeit lang hatte sie in Plymouth in der Nähe des Marinestützpunktes Devonport gelebt. Und obwohl ihr die Arbeit in dem Fischrestaurant gefallen hatte, wie auch die durchtanzten Nächte in den Discos der Hafenstadt, hatte sie sich zurück an die einsamen weißen Winterstrände von St Ives gesehnt. Ein Landei blieb eben ein Landei. Und jetzt wollte Gordon sie heiraten! Sie fühlte sich mit vierundzwanzig Jahren noch viel zu jung für einen solchen Schritt, obwohl ihre Mutter in dem Alter bereits ein Kind geboren und das andere zu Grabe getragen hatte.
Sie erinnerte sich kaum noch an ihre jüngere Schwester Catherine, die mit dreizehn Monaten an einer Hirnhautentzündung gestorben war. Alice war damals erst fünf Jahre alt gewesen. Daher war Cathy für sie nur noch eine ferne Erinnerung, ein vages Gefühl von Trauer, das sie überfiel, wenn sie Babypuder roch. Auf dem Fernseher ihrer Mutter stand immer noch das Foto von ihr und ihrer kleinen Schwester, wie sie zusammen am Strand von St Ives auf einer karierten Decke sitzen und gemeinsam am selben Eis schlecken. Wie auch Alice hatte Catherine blaue Augen gehabt, jedoch blondes Haar und einen breiteren Mund.
   „Sie hat den Schnabel ihres Vaters“, hatte ihre Mutter immer erklärt. „Und vermutlich hätte sie auch so geflucht wie er.“ Ein Scherz, der nie als solcher aufgenommen wurde, den ihre Mutter aber all die Jahre hindurch zu jeder Gelegenheit wiederholte, als würde irgendjemand irgendwann darüber lachen.
   Dorothy Ponsomby Pane war drei Jahre nach Catherines Tod Witwe geworden und hatte nicht wieder geheiratet. Eines Tages war das Sardinenboot ihres Mannes einfach nicht mehr vom nächtlichen Fang zurückgekommen und nach einem Jahr hatten sie und Alice einen leeren Sarg beerdigt. Neben Catherines kleinem Grabstein. Zwei Ponsomby Panes, Seite an Seite.
   „Verdammt!“ Alice schüttelte widerwillig den Kopf. Weshalb kamen ihr jetzt bloß diese alten Geschichten in den Sinn? Hing es damit zusammen, dass Gordon selbst eine Familie gründen wollte? Und wollte sie, Alice, dasselbe?
   „Komm her, du dummer Hund“, rief sie und Ben sprang freudig auf sie zu. „Wer zuerst zu Hause ist, hat gewonnen!“
Sie drehte sich um und sprintete los. Laufen vertrieb die trüben Gedanken, das war schon immer so gewesen.

„Du bist heute aber früh dran.“
   Cliff Leach, der Inhaber des Sea Horse und somit Alice’ Arbeitgeber, warf das Geschirrtuch auf den Tresen und öffnete die Geschirrspülmaschine.
   Sie zuckte mit den Achseln. „Konnte nicht mehr schlafen“, murmelte sie und schnürte sich die schwarze Schürze um die Taille.
   Das Sea Horse befand sich direkt an der Hafenpromenade von St Ives und war für seine frischen Meeresfrüchte bekannt. Ohne Reservierung war es kaum möglich, einen Tisch zu bekommen. Obwohl es von draußen, mit seinen kleinen Butzenfenstern, dem knarrenden Holzschild und den dunklen Sichtbalken, mehr wie eine üble Piratenspelunke aussah, zeugten die weißen Tischdecken vom eigentlichen Stil des Restaurants. Cliff Leach führte das Gasthaus bereits in der dritten Generation und war bei den Touristen wie auch bei den Einheimischen beliebt. Er war ein Bär von einem Mann: zwei Meter groß, weiß melierter Bart und eine tiefe, wohltönende Stimme, die er gerne dazu benutzte, seinen Gästen Volkslieder aus Cornwall nahezubringen.
   Cliff sah sie einen Moment prüfend an, nickte dann aber nur und polierte weiter die Weingläser. Alice deckte derweil die Tische für das Mittagessen auf.
   Es war kurz vor elf. Die Sonne hatte sich nach wie vor nicht hervorgewagt und die Gäste würden demzufolge lieber drinnen sitzen, als sich auf der Terrasse den kalten Meerwind um die Nase wehen zu lassen. Sie ging zurück zur Bar und überflog die Reservierungsliste. Keine größere Gesellschaft – gut. Das Sea Horse wurde oft von Reiseunternehmen für ihre Ausflügler gebucht, und wenn zum selben Zeitpunkt plötzlich zwanzig Touristen auf der Matte standen, konnte es schon hektisch werden.
   Die Tür ging auf und der hereinkommende Wind fegte eine Serviette vom Tisch.
   „Tür zu!“, rief sie ungehalten, ohne sich umzusehen und bückte sich danach. Als sie sich wieder aufrichtete, kreischte sie erschrocken auf. Jemand umfasste von hinten ihre Taille und hob sie hoch in die Luft.
   „Wie geht’s meinem Püppchen?“
   „Gordon“, zischte sie, „lass mich runter, sofort!“
   Gordon Enderby strahlte sie an. „Nur wenn du mir einen Kuss gibst“, forderte er lachend und schüttelte sie, als wäre sie ein Milchshake.
   „Lass mich zuerst runter!“ Sie spürte Cliffs amüsierten Blick in ihrem Rücken und errötete. Immer musste Gordon übertreiben!
   Ihr Freund aus Kindertagen ließ sie langsam zu Boden gleiten und streifte dabei mit seinem Mund ihre Lippen. Unbewusst drehte sie den Kopf zur Seite, was ihm ein Stirnrunzeln entlockte.
   „Ist was, Babe?“, fragte er und hielt sie auf Armeslänge von sich.
   „Ich muss arbeiten“, erwiderte sie genervt und strich die schwarze Schürze glatt.
   „Das weiß ich, Schatz“, entgegnete er. „Hat dich früher aber nie vom Küssen abgehalten.“ Er zwinkerte ihr zu, drehte sich um und trat zu Cliff an die Bar. „Ein Pint, alter Mann.“
   Cliff brummte etwas in seinen Bart, das sich nach ‚frecher Lümmel‘ anhörte, und zapfte Gordon ein Bier.
   Alice strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr. Anscheinend hatte Gordon viel weniger Probleme mit der peinlichen Situation umzugehen, die er gestern Nacht mit seiner Frage heraufbeschworen hatte. Auf alle Fälle führte er sich, im Gegensatz zu ihr, ganz normal auf.
   Während sie die Servietten zu Blüten faltete, beobachtete sie ihn aus den Augenwinkeln. Gordon hatte sich in der Zeit, in der sie in Plymouth gewohnt hatte, die Haare raspelkurz abgeschnitten. Er sah wie ein GI aus einer amerikanischen Actionserie aus. Sein muskulöser Körperbau und sein stetes Grinsen im Gesicht unterstrichen dieses Bild zusätzlich. Ihm gehörte der einzige Nachtklub in St Ives, das Twentyone, das erst um einundzwanzig Uhr seine Tore öffnete. Er hatte also den ganzen Tag, um ihr auf die Nerven zu fallen. Und das tat er seit geraumer Zeit, obwohl sie sich nicht sicher war, ob sie das nur so empfand oder ob er es tatsächlich darauf anlegte, sie zur Weißglut zu treiben.
   Seit ihrer Schulzeit waren sie ein Paar und ganz St Ives hatte Wetten darüber abgeschlossen, wann sie vor den Traualtar treten würden. Ihr Ausbruch aus der gewohnten Umgebung hatte alle verblüfft, am meisten aber wohl sie selbst, weil sie es nie für möglich gehalten hätte, so etwas Unüberlegtes zu tun. Doch plötzlich hatte sie nicht mehr atmen können. Sie sah ihr zukünftiges Leben wie ein Film vor ihrem geistigen Auge ablaufen: Heirat, Kinder, zusammen den Nachtklub führen, und das alles in St Ives bis an ihr Lebensende. Die überstürzte Abreise nach Plymouth war daher mehr eine Flucht gewesen. Doch eine Flucht ließ die Probleme nur zurück, sie löste sie nicht. Seit ihrer Rückkehr war sie sich über ihre Gefühle ihm gegenüber nicht mehr im Klaren, sogar weniger als vorher. War es wirklich noch Liebe oder bloß Sentimentalität?
   „Schau nicht so düster, Babe, das macht alt.“
   Gordon grinste, hob sein Pint und prostete ihr zu.
   Sie verzog den Mund. Am liebsten hätte sie ihm eine scharfe Erwiderung an den Kopf geworfen. Von wegen alt! Die Falten um seine Augen waren tiefer geworden. Die langen Nächte mit reichlich Alkohol im Klub forderten selbst bei einem Muskelpaket ihren Tribut. Wenn er nicht aufpasste, würde er ein ernstes Problem bekommen. War es das, was sie zurückschrecken ließ? Ihre Mutter hatte sie immer davor gewarnt, einem Mann zu vertrauen, der lieber eine Flasche in der Hand hielt als sein Mädchen.
   Alice schüttelte den Kopf. Sie sah Gespenster. Gordon lebte einfach gerne, das war sein gutes Recht. Und sie hatte keine Veranlassung, an ihm herumzunörgeln, schließlich waren sie offiziell gar nicht mehr zusammen, obwohl er das anscheinend ein bisschen anders sah.
   Die Tür ging abermals auf, vier ältere Personen traten herein und sahen sich suchend um. Sie setzte ein Lächeln auf und begrüßte die Gäste. Immerhin erlösten die Kunden sie für eine Weile von ihren konfusen Überlegungen. Als sie ihnen wenig später die Getränke servierte, hatte Gordon das Sea Horse bereits wieder verlassen.

Schauplätze

Foto © Margot S. Baumann: Big Ben und im Hintergrud das London Eye
Foto © Margot S. Baumann: Big Ben und im Hintergrud das London Eye

London ist die Hauptstadt des Vereinigten Königreichs und des Landesteils England. Die Stadt liegt an der Themse in Südostengland auf der Insel Großbritannien.

Im Jahre 50 n. Chr. von den Römern als antike Siedlung „Londinium“ gegründet, wurde die Stadt nach der normannischen Eroberung 1066 zur Hauptstadt des Königreichs England und in Folge Sitz des britischen Königshauses.

 

John arbeitet in London als Anwalt in der Kanzlei McDermott & Hobbs an der Pilgrim Street. Er hat eine Vorliebe für Sandwiches und Chai-Tea. In der Mittagspause geht er oft in den Hyde-Park, setzt sich auf eine Bank und sinniert über sein bisheriges Leben, mit dem er recht unzufrieden ist.

 

Ob je Abenteuer auf ihn warten?

Foto © Margot S. Baumann: St. Michael’s Mount
Foto © Margot S. Baumann: St. Michael’s Mount

St. Michael’s Mount ist eine Gezeiteninsel an der Südwestspitze  Cornwalls gegenüber von Marazion. Sie ist entweder mit einer Fähre oder, bei Niedrigwasser, über einen schmalen Damm  zu erreichen.

 

Die Kapelle auf dem Berg wurde im 15. Jahrhundert errichtet und befindet sich wie auch das Schloss unter privater Leitung, kann aber besichtigt werden. Auf der Insel bzw. dem Berg befinden sich neben einem subtropischen Garten noch einige weitere Häuser und Anlagen vor allem religiösen Charakters.  (Textauszug: Wikipedia)

 

St. Michael's Mount ist einer von Alice' Lieblingsplätzen. Meiner übrigens auch!

Foto ©Margot S. Baumann: St Ives
Foto ©Margot S. Baumann: St Ives

St Ives: Der Name der Stadt leitet sich von der kornischen Heiligen Ia ab, nach welcher die Kirche im Ort, St. Ia’s Church, benannt ist. St Ives ist als beliebter Ferienort und Künstlerkolonie bekannt.

 

Hier wohnt Alice mit ihrer Mutter Dorothy zusammen. Und Johns Recherchen führen ihn genau in diesen beliebten Ferienort an der cornischen Küste. Wie sich ihr erstes gemeinsames Zusammentreffen gestaltet, ist so typisch für den lieben John.

 

Der Küstenort ist im Sommer ein wenig überlaufen. An der Promenade drängen sich Touristen aus aller Welt. Etwas abseits in den schmalen Gässchen ist jedoch durchaus noch etwas von dem ursprünglichen Flair des ehemaligen Fischerdorfs zu spüren.

Foto © Margot S. Baumann: Tintagel
Foto © Margot S. Baumann: Tintagel

Auf diesem windumtosten Felsen liegt die Burgruine Tintagel Castle, angeblich der Geburtsort von König Artus. Bei meinem Besuch war die Stimmung recht mystisch und beinahe vermeinte man zwischen Brandung, Möwengeschrei und dem stetig wehenden Wind Schwertergeklirr und galoppierende Pferde zu hören.

 

Alice mach John allerlei Vorschläge, was er in Cornwall besichtigen soll. Tintagel Castle gehört selbstverständlich dazu.